Biologische Vielfalt erhalten

Weltweit sterben zurzeit so viele Arten aus wie zuletzt vor 66 Millionen Jahren. Dennoch handelt die Politik nicht bzw. viel zu zögerlich. Dabei gibt es gute Ansätze, den drei Krisen Biodiversität, Landwirtschaft und Ernährung gemeinsam zu begegnen.

Wir befinden uns mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte. Beim letzten Mal war es vermutlich ein riesiger Meteorit, der in den Globus Erde einschlug und die Zeit der Dinosaurier beendete. Doch dieses Mal sind es wir Menschen, die das Sterben der anderen Arten verursachen. Seit 1992 warnen Forscher:innen vor dem großen Sterben. Damals veröffentlichte der Physik-­Nobelpreisträger Henry Kendall eine Warnung an die Menschheit: Von den vielen Zerstörungen natürlicher Ressourcen müsse der unwiderrufliche Verlust der Arten besonders ernst genommen werden.

Warnung an die Menschheit

2017 wiederholten Kendalls Nachfolger seine Warnung. Dieses Mal schlossen sich mehr als 15.000 Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt an. Mit Ausnahme des Lochs in der Ozonschicht ist kein Problem gelöst worden, im Gegenteil. Die Menschheit hat nicht genug unternommen, um den Klimawandel zu bremsen. Und darüber hinaus hat sie ein Massenaussterben entfesselt. Es könnte bis zum Ende dieses Jahrhunderts viele der gegenwärtigen Lebensformen auslöschen. Der Weltbiodiversitätsrat IPBES bündelt die weltweite Forschung zur gefährdeten Artenvielfalt. Im Mai 2019 verkündete der Rat, dass eine Million Arten in den nächsten Jahren vom Aussterben bedroht seien. Laut der Naturschutzorganisation WWF sind in Deutschland 33 Prozent der Wirbeltiere, 34 Prozent der wirbellosen Tiere, 31 Prozent der Pflanzen und 20 Prozent der Pilze in ihrem Bestand gefährdet.

Der Klimawandel wird die Biodiversitätskrise noch beschleunigen. Die Gefahren durch den Verlust der biologischen Vielfalt werden für die Menschen ebenso groß sein wie die Folgen des Klimawandels. Trotzdem ist die gefährdete Biodiversität in den Medien und damit in der Gesellschaft kaum präsent. Es gibt beeindruckende Dokumentationen über das Verschwinden von Insekten oder Vögeln. Doch selten wird die Gefährdung einzelner Arten mit der großen existenziellen Gefahr in Verbindung gebracht, die der Verlust der Vielfalt für die Menschen bedeuten wird. Denn in Ökosystemen hängt alles in Nahrungsnetzen und Stoffkreisläufen miteinander zusammen. Stirbt eine Pflanzenart aus, folgen weitere Arten nach. Wenn beispielsweise das Leben in den Meeren stirbt, bleibt uns die Luft weg. Denn etwa die Hälfte des Sauerstoffs in der Luft wird von winzigen Meeresalgen produziert. Sterben Insekten aus, fehlt die Bestäubung für Nahrungspflanzen mit der Gefahr der Ernährungssicherheit für uns Menschen.

Industrielle Landwirtschaft reduziert Artenvielfalt

Biodiversitätskrise, Landwirtschaft und Ernährungssicherheit hängen unmittelbar zusammen. Die Artenvielfalt der mitteleuropäischen Kulturlandschaft ist erst durch landwirtschaftliche Nutzung entstanden. Es waren Bauern, die über Jahrtausende vielfältige Lebensräume geschaffen und durch ihre Arbeit erhalten haben. Erst die Industrialisierung der Landwirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten die Vielfalt aus der Agrarlandschaft verdrängt: durch die Intensivierung der Bewirtschaftung, die Verengung der Fruchtfolgen, die Verbannung der Tiere aus der Landschaft und durch den Einsatz von künstlichem Mineraldünger und chemischen Pflanzenschutzmitteln. Diese Veränderungen haben die Landwirtschaft sehr viel produktiver gemacht – in Tonnen pro Hektar gerechnet oder Liter Milch pro Kuh oder Kilogramm Schlachtgewicht pro Schwein. Nicht aber in Umweltleistungen. Das Artensterben ist die Folge einer Agrarpolitik, die viel zu lange einseitig hohe Mengen produziert und gefördert hat. Sie kümmert sich nicht darum, wie diese Art der Produktion mit den Umwelt-, Nachhaltigkeits- und Klimazielen der EU zu vereinbaren ist.

Monotonie auf den Tellern

Heute stammen zwei Drittel der gesamten Welternte von nur neun Pflanzen: Zuckerrohr, Mais, Reis, Weizen, Kartoffeln Sojabohnen, Ölpalmen, Zuckerrüben und Maniok. Dabei gibt es rund 382.000 verschiedene Pflanzen auf der Welt und mehr als 6.000 davon haben die Menschen kultiviert, um daraus Lebensmittel zuzubereiten. Diese neun Pflanzen füllen zwei Drittel unserer Speisezettel.

Die Vielfalt im Supermarkt besteht zum großen Teil eben nicht aus einem vielfältigen Angebot an pflanzlichen Produkten, sondern sie wird aus wenigen Planzen im Labor erzeugt. Im durchschnittlichen Cerealienregal stehen fünfzig verschiedene Sorten. Die wichtigsten Zutaten: Mais, Reis oder Weizen sowie Zucker und Glukosesirup. Die vermeintliche Vielfalt entsteht erst durch Formen, Farbstoffe und Aromen, Comicfiguren und Filmhelden auf den knallbunten Verpackungen, die Kinder verlocken sollen. Das Ergebnis sind industriell gefertigte Lebensmittel, die unsere Gesundheit gefährden, weil sie zu viel Zucker und Fett enthalten und zu wenig Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe.

Falsches Vertrauen in Lebensmittelangebot

Dreiviertel der Frühstücksflocken enthalten mehr als 15 Gramm Zucker pro 100 Gramm. Bei den Cerealien-Produkten, die sich direkt an Kinder richten, sind es sogar 99 Prozent der Frühstücksflocken. Die Studie der AOK zeigte einen klaren Zusammenhang zwischen Einkommen, Bildung und Einkaufsverhalten: Je geringer der soziale Status eines Haushalts, desto süßer war das Kinderfrühstück. Viele Eltern haben ein falsches Vertrauen in die bunten Produkte aus den Supermarktregalen. Daher ist das ungesunde Angebot fatal. Krankenkassen und Verbraucherschutzorganisationen kritisieren schon lange das lasche Verhalten des Ernährungsministeriums, das noch immer auf die langfristige Wirkung von freiwilligen Vereinbarungen der Lebensmittelindustrie hofft.

Politik handelt viel zu zögerlich

Diese seit Jahren viel zu zögerliche Haltung der Verbraucherschutzpolitik hilft den Kindern wenig, um sie vor ihrer krankmachenden Umgebung zu schützen. Dabei sollten sie erfahren, wie gesund und lecker Lebensmittel sein können. Unser Agrar- und Ernährungssystem gefährdet also die Biodiversität, macht viele Menschen krank und obendrein beutet es viele Erzeuge:innen von wichtigen Rohstoffen aus: Kaffee- und Kakaoproduzenten im globalen Süden, Plantagenarbeiter:innen in Spanien und Italien sowie Milchbäuer:innen in Deutschland. Sie werden oft mit Preisen unter den Produktionskosten abgespeist, während die großen Agrarhändler:innen, Pestizidproduzent:innen, Lebensmittelkonzerne und Supermärkte zu immer größeren und einflussreicheren Einheiten verschmelzen. Der Kern des Problems ist eine Wirtschaftsordnung, die wirtschaftliche Entwicklung auf Kosten der Natur und der Gesundheit des Menschen ermöglicht, für die Folgen aber nicht aufkommen muss.

Berichterstattung oft verwirrend

In den Medien werden viele einzelne Aspekte dieser dreifachen Krise – Biodiversität, Landwirtschaft und Ernährung – immer wieder thematisiert, doch selten mit einem Blick auf die Zusammenhänge. Die Medien ignorieren die Notwendigkeit zu weltweiten Änderungen der bisherigen Systeme – globale Transformation genannt. Ähnlich geht es bei der Darstellung unseres Ernährungssystems zu: Immer wieder wird über Übergewicht und falsche Ernährung berichtet, auch über zu viel Zucker als Ursache für viele gesundheitliche Probleme – doch meist mit dem Fokus auf die individuelle Verantwortung der Betroffenen. Daran beteiligt ist auch die starke Lobby der Ernährungsindustrie. Die Sicht vieler Ernährungswissenschaftler:innen, dass es vielmehr unsere fett- und krankmachende Lebenswelt ist, die die Menschen systematisch zu schlechter Ernährung bringt, wird kaum thematisiert.

Den Krisen gemeinsam begegnen

Seit Jahrzehnten wächst die wissenschaftliche Evidenz für die Notwendigkeit einer umfassenden globalen Transformation unserer Ernährungs- und Wirtschaftsweise. Das sollten auch die Medien stärker thematisieren. Denn es gibt gute Ansätze, den drei Krisen Biodiversität, Landwirtschaft und Ernährung zu begegnen. Die Ressourcenforscher:innen und Ernährungsmediziner:innen der Eat Lancet Commission on Food, Planet and Health haben untersucht, wie eine gesunde Welternährung unter Berücksichtigung der planetaren Grenzen, Biodiversität inklusive, zusammengehen könnten. Ihr Ergebnis: Die Frage der Ernährung ist der stärkste Hebel, um in Sachen Nachhaltigkeit etwas zu erreichen. Wir müssen die Produktion von Früchten, Gemüse, Hülsenfrüchte und Nüssen verdoppeln und den Fleisch- und Zuckerkonsum um mehr als die Hälfte reduzieren. Das würde uns unsere Ernährung gesünder machen und die Landwirtschaft vielfältiger und nachhaltiger.

Appelle an Verbraucher:innen reichen nicht

Um das zu erreichen, genügen keine freundlichen Appelle an das Konsumverhalten. Es braucht ein koordiniertes Vorgehen von Agrar-, Gesundheits- und Handelspolitik. Es bräuchte verlässliche finanzielle Unterstützung für den Umbau der Landwirtschaft, für den Wiederaufbau des Lebensmittelhandwerks und von regionalem Wertschöpfungsketten. Es braucht eine öffentliche Beschaffung, die gesunde und regionale Lebensmittel zu fairen Preisen ausschreibt, und es braucht Ernährungs- und Nachhaltigkeitsbildung an Schulen und in Kommunen. Das Ergebnis wären gesündere Menschen in einer schöneren, vielfältigeren Landschaft, lebendige ländliche Räume und eine größere biologische Vielfalt. Es lohnt, sich dafür einzusetzen.

Dr. Tanja Busse, gekürzt aus UGBforum 6/20

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